„Kreide“ oder schlicht „M9A“: Mit dieser – zugegeben – schönen Farbe bringen Porsche-Connaisseure eher die gegenwärtige Neunelfer-Generation 992 in Verbindung. 2.713,20 EUR stellt das Zuffenhausener Sportwagen-Werk für eine solche (Sonder-)Lackierung in Rechnung. Ob das auch für das Projekt Nummer drei des Schweizer Rennfahrers und Designers Urs Erbacher gilt, ist nicht überliefert. Jedenfalls vollführte der stets umtriebige Eidgenosse eine Transferleistung von der Vergangenheit in die Gegenwart, in dem er die Aura des bald 50 Jahre alten Carrera RSR 2.8 mit der Anmutung des gegenwärtigen Flaggschiffs der Porsche AG in einen Zusammenhang brachte – und so ganz nebenbei noch ein extremes Leichtbau-Projekt verwirklichte. Möglich wurde dies durch einen großzügigen Verbau moderner Karbon-Teile aus gutem Hause: 1.050 Kilogramm Leergewicht – eine Kampfansage für ein Backdate-Exemplar auf 964er-Grundlage. Was es mit dem hübsch anzusehenden Kontrastprogramm zum „Singer-Style“ auf sich hat und warum Fahrdynamik eine entscheidende Rolle gespielt hat, lesen Sie am besten selbst!
„Mach gleich mal eine Probefahrt!“, hatte Urs Erbacher aufgefordert und den Zündschlüssel gereicht. „Einfach ganz durch den Ort und dann immer weiter bergauf“, fügte der Eidgenosse noch hinzu, „bis es nicht mehr weitergeht. Dann wirst Du ja sehen, was unser Projekt Nummer 3 so alles kann!“ Wer würde dieser Aufforderung widerstehen können? Jedenfalls niemand, der mit dem Mythos Carrera RSR 2.8 irgendetwas anzufangen weiß. Die Formen des pausbackigen Neunelfers mit den Hupengittern vorn und dem „Entenbürzel“ hinten kennt und liebt beinahe jedes (große) Kind. Und wenn es dann obendrein im Wageninneren ähnlich spartanisch zugeht wie in einem Grand-Tourisme-Rennsportwagen anno 1973 und zu allem Überfluss ein 4,3-Liter-Motor im Spiel ist, gibt es eigentlich kein Halten mehr: Her mit dem Schlüssel zur Freiheit, die (leer) 1.050 Kilogramm in Bewegung und vorsichtig auf Temperatur gebracht – und los geht’s! Natürlich: Die Straßen rund um Dornach bei Basel sind keine Streckenabschnitte der berühmt-berüchtigten „Targa Florio“ auf Sizilien, außerdem befindet sich die in „Kreide M9A“ lackierte Schönheit schon längst in Privatbesitz. Da fährt Verantwortung mit, wenngleich sofort eine Ahnung aufkommt vom Hochgefühl, mit diesem Gerät öfter unterwegs sein zu dürfen als nur an diesem einen Vormittag an einem Tag im August.
So oder so ähnlich muss es der heutige Eigner erlebt haben, als er sich zunächst für einen anderen Erbacher-Porsche interessierte. Eine Probefahrt gab für den Genfer den Ausschlag, sich gegen den allgegenwärtigen „Singer-Style“ und für das effektivere Leichtbau-Konzept zu entscheiden. Der Vorbesitzer war nur wenig damit gefahren, keine 600 oder 700 Kilometer im Jahr. Obwohl seit zwei Sommern fahrbereit, befand sich der modifizierte 964er noch immer im Neuzustand. „Der war sofort verkauft“, weiß Urs Erbacher zu berichten, „der Gewichtsvorteil und die bessere Dynamik haben überzeugt“. Eine Aussage wie in Stein gemeißelt – oder in Kreide notabene. Nun sind kurvenreiche Bergstraßen für Leichtgewichte mit größeren Hubräumen wie geschaffen, viel mehr noch als Rennstrecken. Doch eine fulminante Leistungsexplosion findet auch hinter dem Ortsausgangsschild nicht statt. Statt dessen vermittelt der Retro-Renner eine einfache Erkenntnis: „Ich nehme Dich mit, ich dränge mich nicht auf und Du entscheidest, in welcher Gangart wir uns dem Ziel nähern.“ Das geht nämlich in zweierlei Modi: einmal kommod und vollkommen alltagstauglich, ein anderes Mal mit der Elastizität eines dicken Bungee-Seiles, das immer wieder gespannt und neu losgelassen wird, um Vortrieb zu erzeugen. Davon ist eine kaum überschaubare Menge vorhanden, sofern letzte Ressentiments hinter den Anbremszonen vor den Kehren zurückbleiben.
Nein, dieser Neunelfer ist kein Rennwagen, auch kein Schönling für die Promenade: Er ist etwas Ureigenes, Spezielles, eine Mischung aus vielem. Urs Erbacher hatte vor Fahrtantritt gesagt: „In erster Linie sehe ich mich als einen Designer, der unterschiedliche Ideen, Elemente und Einflüsse auf einen Nenner bringt – so ist das auch hier, in diesem Fall gelaufen.“ Aber der Reihe nach: Am Anfang stand, wie schon bei den zwei vorherigen Porsche-Projekten, ein Gebrauchtwagen des Typs 964. Anders als bei den ersten Ansätzen im Stil des US-amerikanischen Marktbereiters Singer galten diesmal neue Paradigmen, und dabei war der deutsche Karossier Patrick Zimmermann mit seiner Traditionsmarke dp Motorsport behilflich. „Wir lernten uns auf der Techno-Classica in der Messe Essen kennen“, erzählt Urs Erbacher am Morgen vor der Probefahrt. „Wir kamen schnell ins Gespräch und sind auf Anhieb miteinander zurechtgekommen.“ Was bei einem Rheinländer wie Zimmermann junior auch gar nicht anders zu erwarten ist. Jedenfalls machte zu dieser Zeit ein Projekt die Runde, das im werk1-Jahrgang 2014 (!) unter der Titelzeile „More Serotonin, please“ einiges Aufsehen hervorgerufen hatte. Später kam ausgerechnet dieser „964 Classic RSR“ bei Urs Erbacher in der Schweiz zur TÜV-Prüfung an – und das vertiefte das vorhandene Interesse natürlich noch. Und als dann noch die werk1-Ausgabe März/April 2015 ein hellgrauer „964 Classic RSR“ von Patrick Zimmermann als Cover Star zierte, griff ein Zahnrad ins nächste.
Viele zweifelten damals, vor sieben Jahren, die Gewichtsangabe an. 1.020 Kilogramm sollten es sein: freilich mit Türen aus Karbon und Fenstern aus dem Polycarbonat Makrolon®. Beides kam in Dornach aber nicht in Betracht – aus folgendem Grund: „Bei uns in der Schweiz ist es wegen des fehlenden Seitenaufprallschutzes nicht einfach, Kunststoff-Türen für den Straßenverkehr durch den TÜV, respektive die MFK, zu bringen“, stellt der Fachmann für Krfatfahrzeug-Zulassungen fest. „Hinzu kommt, dass Seitenscheiben aus Makrolon® sehr schnell verkratzen und nicht mehr gut aussehen, und das wollen die wenigsten Kunden.“ Folglich galt die Devise: alles, was geht – bis auf die Türen und Fenster. Die verblieben im Werks-Auslieferungsstand, was das Leergewicht neu festlegte: von 1.020 auf 1.050 Kilogramm. Das waren im Vergleich mit einer Kreation im „Singer-Style“ immer noch 400 bis 600 Pfund weniger und damit eine echte Hausnummer. Wie man dies erreicht? Nun, zunächst einmal durch den großzügigen Einsatz von Kohlefaser bei den vorderen Kotflügeln, den hinteren Seitenwänden, den Hauben, Schürzen und auch der Dachhaut. Zimmermann fertigt all diese Komponenten in unterschiedlichen Verfahren, abhängig von der zu überspannenden Fläche. Ist diese besonders groß, wird eine Vakuum-Methode angewandt, die Zimmermann wie folgt beschreibt: „Die größeren Bauteile werden zunächst klassisch laminiert und anschließend in Folie verpackt, um die Luft zu entziehen und überschüssiges Harz austreten zu lassen. Der Sandwich-Kern im Inneren wird sauber angepasst, um die bestmögliche Stabilität zu gewährleisten.“
Von Hand laminiert Patrick Zimmermann zum Beispiel die vorderen Kotflügel und die hinteren Seitenwände, jeweils aus solider Kohlefaser. Das schwungvolle Ensemble schafft den Rahmen für umgeschweißte Fuchs-Schmiedefelgen, vorn in 9J x 15 ET 26 und an der Antriebsachse in 11J x 15 ET 15. Während an der Vorderachse jeweils 21 Millimeter dicke Distanzscheiben benötigt werden, kommt die Hinterachse ohne sie aus. Das einstellbare Gewindefahrwerk mit eloxierten Domlagern liefert KW in der allseits bekannten Variante „Competition 3“, die nebenbei auf 40 Millimeter Absenkung eingestellt ist. Mit den Michelin „TB5 F plus Racing“ in 225/50 R 15 und 285/40 R 15 hinten könnte man eigentlich an Sportveranstaltungen teilnehmen, auch die Performance der für den Verbau der 15-Zoll-Räder modifizierten Vierkolben-RS-Bremsen würde dies zulassen. Es wäre allein die Frage zu klären, in welches sportrechtliche Regelwerk der 4,3-Liter-Sportmotor von Lothar Rothenhebers Eggenberger Motorenbau AG (Egmo) passen könnte – bei der Neunelfer-Generation 964 lag die Hubraumgrenze nämlich bei 3,8 Litern. Die 500 Kubikzentimeter zusätzlich sind das Resultat einer aufwändigen Entwicklung, die Rothenheber und Urs Erbacher gemeinsam auf den Weg gebracht haben. Kernaspekt des an den Grenzen zum Genialen rüttelnden Maschinenbaus: eine eigens konstruierte Kurbelwelle, die eine PS-Leistung und auch ein maximales Drehmoment jenseits der 400 ermöglicht. Dass kaum mehr als das „Full Matching“-Kurbelgehäuse von der Serie übernommen wird, versteht sich dabei fast von selbst.
Weil auch der Raumbedarf vieler Aggregate anders ist als beim herkömmlichen Carrera-Motor, musste sowohl auf eine elektrische Servolenkung als auch auf eine elektrische Klimaanlage umgestellt werden – Lothar Rothenheber wusste den Platz zu nutzen. Das Ergebnis: eine spektakuläre, vom goldenen Kühlgebläse-Lüfterrad und der an den RSR angelehnten, geschweißten Saugspinne beherrschte Triebwerkskammer. Powerflex-PU-Motorlager sowie die ebenfalls bei Egmo gefertigte Abgasanlage mit abgestimmtem Motorsteuergerät runden das Gesamtbild ab. Wenn 410 PS aus 1.050 Kilogramm treffen, bedarf es natürlich der einen oder anderen Vorkehrung im Wageninneren. So ist ein Überrollschutz ebenso enthalten wie zwei eng geschnittene Recaro-Profilschalensitze des Typs „Pole Position“ mit Alcantara-Bezügen oder eine präzise geführte, hochgesetzte Schaltkulissse wie ab 1995 im 911 (993) GT2. Ein Blick unter die Fronthaube öffnet nicht nur die Sicht auf sauber ausgeführten Blechbau und die Querabstützung zwischen den vorderen Federbeindomen, sondern auch auf die Fahrzeug-Identifikationsnummer. Ihr Kennbuchstabe L offenbart das eigentliche Alter des Neuwagens: 1990 ist er ausgeliefert worden. Anzumerken ist ihm das zu keinem Zeitpunkt, nicht einmal am Umkehrpunkt der Probefahrt hoch oben am Berg. Da bricht sich nur ein einziger, wenn auch unvernünftiger Gedanke Bahn: „Leisten kann ich mir es nicht – aber verdammt nochmal, ich will es haben, dieses Sport- und Spaßgerät!“
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Verantwortlich für den Inhalt: netzwerkeins GmbH, Carsten Krome
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